Leben
01.09.2023

Abschied ohne Wiedersehen

Im Manuskript „Der Karpfenkuss am Bahnsteig von Assisi“ beschreibt Dr. Hofmeister, was er in seiner langjährigen Erfahrung in der Begleitung von Krebspatienten erlebt hat.

Gemeinsam mit seiner großen Liebe ging er vor Jahren ihren, alle Kräfte fordernden, letzten Weg. Es war, wie der vor ihm liegende Wegabschnitt, ein Auf und Ab. Sie folgten vorgegebenen Wegweisern, von Beratern mit Wissen und Erfahrung, Einflüsterungen, und vorhandenen Möglichkeiten mit der ständigen Begleitung nebulöser Unsicherheit. Während gleichzeitig, mit nicht wahr haben wollender Sicherheit, spürbare Wegweiser zu einem Endpunkt zeigten, zu dem sie beide nicht gehen wollten.

Gemeinsam folgten sie hoffnungsvoll den vorgegebenen Wegweisern, auch wenn deren Ziele nur verschwommen ein Weiterkommen anzeigten. Aber etwas tun, gehen zu können eröffnete neue Blickrichtungen, neue Aussichten und gab ihnen Hoffnung. Auf dem Weg fanden sie neue Möglichkeiten, erlebten Veränderungen, lernten neue Freunde kennen und alte Freunde neu kennen. Nichts zu tun, den geplanten Weg zu zerreden, war ein im Kreis gehen und schürte nur Zweifel. Mit dieser Erfahrung gingen sie immer wieder Wegabschnitte: oft schwungvoll und lebenslustig, miteinander oder auch schweigend, nachdenklich, nebeneinander. In der Stille entwickelte sich das auf solch unsicheren Wegen so wichtige Bauchgefühl.

„Im Abschied wirkt eine Macht, die in uns Veränderungen schafft. Im Weitergehen Erinnerungen schenkt, die den Lauf des Lebens zu Halteplätzen lenkt.“

Es begann schon in jungen Jahren, dass ihr große Steine in den Weg gestellt wurden, die ihr lebensfrohes, freudiges und fleißiges Weiterkommen bremsen wollten. Im gemeinsamen Gespräch beurteilten sie die einzelnen oft sehr großen Steine von allen Seiten. Bis er sie still und nachdenklich allein vor den großen Brocken sitzen sah, sich sanft ihre Mundwinkel hoben und sie leise ihm mitteilte, wie sie dieses Hindernis bewältigen werde. In solchen Momenten erfuhr er gelebte Demut. Sie lächelte, hatte Pläne für die nahe und ferne Zukunft. Sie machte ihm Mut indem sie sagte: wir schaffen das, pass du nur auf dich auf.

Diese ihre Demut zeigte sich lächelnd mit aufrechter Haltung mit großem Mut den gestellten Lebensaufgaben zu dienen. Sie war es die den Leuten, die zu ihnen um Hilfe kamen, tröstende, aufmunternde Worte schenkte, ihnen mit ihrer selbsterlebten Erfahrung Mut zusprach. Sie war aktiv im Vereinsleben im Dorfleben verankert. Er nannte sie oft ehrlich gemeint, humoristisch ausgesprochen, seine Außenministerin. Der Ausdruck ihrer Demut war keine gebeugte Haltung, die sich im Selbstmitleid verlor. Flucht in Selbstmitleid würde ihre Suche nach Auswegen und Möglichkeiten stören und somit aufkeimende Hoffnung bremsen.

Sie diente mit Freude, wie der Leitspruch eines ihnen nahestehenden, lebensfrohen Priesters, beiden eine Stütze war: servire in laetitia: Diene mit Freude!

Ihrer beider Hoffnung wuchs, wenn sie diese wie einen empfindlichen Keimling, mit Gefühl und Achtsamkeit fütterten. Auf schwierigen Wegen war die Nahrung Herzenswärme, das Vorausahnen von alltäglichen Bedürfnissen, die mit einem zustimmenden Lächeln gegeben und genommen wurde. Ihm wurde klar, dass sein herumsudern, philosophieren mit schönen Worten wenig bewirkte, jedoch im richtigen Moment ein Frühstückskipferl fein zubereitet mit dick Butter und süßer Erdbeermarmelade ihr ein freudiges Lächeln ins Gesicht zauberte. In solchen Augenblicken stellte sie das Genießen vor, sonst strikt eingehaltene, sogenannte gesunde Ernährungsempfehlungen. Dieses war für sie Wohlbefinden und damit lernte er, dass ein Frühstückskipferl, im passenden Moment, mehr Wohlbefinden bewirken kann als schöne Worte. In seinem Dialekt heißt es: „Gscheit gred is bald, gscheit getan wirkt“. (Gute Worte sprechen sich leicht, Gutes getan wirkt.)

Dr. Wolfgang Hofmeister

„Das Feuer der Liebe für das Gewesene, ist das Licht für den Schatten, den jeder Abschied hinterlässt.“

© Plimon

Es gab Momente da saß er neben ihr und wusste nicht was getan werden könnte, er saß im wahrsten Sinne des Wortes daneben. In ihrer beider Gemeinschaft war sie die treibende Kraft für den Alltag, er für die weitreichenden Entscheidungen. Auf diesem letzten gemeinsamen Weg konnte es geschehen, dass sie allein beim unterhaltsamen Planen, was sie noch tun könnten, ermüdete, einnickte und geplantes vielleicht im Schlaf verwirklichte. Er hörte ihre Atemzüge und folgte ihren, ihm so vertrauten Gesichtszügen, die ihm erzählten, wann sie sich wohl fühlte und wann sie im Schlaf wieder was auslebte, manchmal begleitet von einem sanften stillen Lächeln, dann wieder mit fast beängstigendem Stirnrunzeln. Er lebte als Beobachter, mit allen Sinnen und viel Emotion, im wachen Zustand, ihr Schlaferleben mit.

Gleichzeitig suchte er zu finden was zu tun wäre. Nichts tun zu können ist schwer. Er war, mit seinen Gedanken über Leben und das Leben loslassen, Alleinunterhalter. Seine Hauptbeschäftigung war warten und mit Aufmerksamkeit im rechten Moment da zu sein. In diesen Tagen erfuhr er, welchen Sinn ein Leben auch immer hat, vordergründig ist das Dasein.

Dann gab es oft früh morgens Energieschübe, die sie bis an ihre Leistungsgrenze auslebte. Nach einem kleinen Frühstück -  das Kauen tat weh - schob sie, aufrecht im Bett sitzend, das Serviertischchen beiseite und stand ungebremst schnell auf. Seine Beobachterposition war in solchen Augenblicken hochgefordert und das, ohne ein sorgenvolles Gesicht zu zeigen. Sie wollte ihm nie Sorgen bereiten, es reichten seine Selbstgemachten. Er hörte sich selbst Viktor Frankl zitieren: „Alles eine Sache der Einstellungswerte“ oder Dalai-Lama: „Wozu sich Sorgen machen, es reicht schon das Leiden an sich.“

 

Sobald sie sich sicher im Stehen fühlte, ging sie festen Schrittes zum Fenster. Dort verweilte sie, lehnte ihren Kopf wie gewohnt an seine rechte Schulter und wartete etwas außer Atem gekommen. Mit dem Blick auf dem hell in der Sonne stehenden, felsigen schroffen Gipfel des Mittagskogels träumte er, vor sich hinsprechend, von den vielen gemeinsam erlebten Wanderungen. Als sie sich wieder erholt hatte unterbrach sie ihn. Ihre Sprache hatte sich in den letzten Tagen geändert. Die Sätze waren kurz und klar, es fehlte ihnen ihre gewohnt einfühlsame Art. Das Sprechen war schmerzhaft, das Singen was sie so liebte, war unmöglich. Er hat sich schnell dran gewöhnt, auch an plötzliche Themenwechsel mit Anforderungen, die für die Situation auf diesem letzten Weg herausfordernd waren. Sie sagte: „Ich fühle mich gut, ich will bald nach Hause, du schaffst das schon.“

Wie als Beweis wollte sie in dem kleinen Zimmer mit ihm Tanzen. Er dachte an etwas Langsames, Gefühlvolles, Anschmiegsames, um ihr einige rhythmisch gemeinsame Schritte, vielleicht auch Drehungen zu ermöglichen. Ihr Rhythmus hatte sich auf diesem Weg geändert, sie passte ihn den Gegebenheiten an und er versuchte diesen sich rasch ändernden Rhythmus zu erkennen, um in dieser Lebensphase miteinander zu sein. In diesem Moment erinnerte sie sich an den schwungvollen Foxtrott, den sie mehrmals in Afrika mit großer Bewunderung der dortigen Freunde genießen durften. Sie trug damals ein attraktives, gestreiftes, wadenlanges Kleid. Bei diesem Tanz, im kleinen Einbettzimmer, war sie in einem weißen Hausanzug, der ihrem blassen Gesicht doch etwas farbigen Kontrast bot. Sie ließ sich führen, solange er im Rhythmus blieb, und wenn auch langsam, gelangen ihnen einige altbekannte gewohnte Figuren. Harmonisch, gefühlt schwebend, bewegten sie sich gemeinsam auf den vielen besonderen Lebensabschnitten ihrer ganz persönlichen Welt, und sie tanzte mit Haltung und Würde bis zum letzten „Seitschritt-Seit“.

Nach dem unwiederbringlichen Abschied sagte ein guter Freund, wohl als Trost gemeint, folgendes: „Dieses Buch ist für immer geschlossen!“  Dieser Satz verstörte ihn anfangs und ließ innerlich wütende Ablehnung aufwallen. Für ihn war es ein Buch gefüllt mit gemeinsamen, fröhlichen, spannenden Erlebnissen und  herausfordernden, gemeinsamen Entscheidungen über Fragen, die das Leben stellt. Eine Liebesgeschichte, die zeigte wie Freude und Leid zusammen gehören und wie nach einer Regenfront die Sonne wieder wärmendes Lächeln in den Alltag zaubert. Ein solches Buch legt er nicht unbedacht zur Seite. Er streicht wohlgefällig über den Umschlag und platziert es in seiner Nähe, um es jederzeit in die Hand nehmen zu können und wiederholt einen kurzen Abschnitt daraus zu lesen.

So waren sie eins, wie ein Baum, der aus gemeinsamen Wurzeln zwei kräftige Stämme bildet. Im Stamm waren sie einzeln, an beide konnte man sich anlehnen und Halt finden. In der Krone bildeten sie ein gemeinsames Blätterdach, das einen großen Schatten gab, wenn die Sonne strahlte. Einen Stamm hat der Wind förmlich weggerissen. Der schutzgebende Schatten ist kleiner geworden.

Auszug aus dem unveröffentlichten Buch „ Der Karpfenkuss am Bahnsteig von Assisi“ von Dr. Wolfgang Hofmeister.

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