Leonie Loipold
© Pachler
Alles begann in den 1950er Jahren mit der Idee einer italienischen Rechts- und Erziehungswissenschaftlerin. Sofia Corradi, heute auch „Mamma Erasmus“ genannt, hatte im Rahmen ihres Studiums einen Fulbright-Aufenthalt in New York absolviert – der dort erworbene Masterabschluss wurde ihr in Italien allerdings nicht anerkannt. 1969 verfasste Corradi ein Memorandum, in dem sie die Gleichwertigkeit und Anrechenbarkeit im Ausland absolvierter Ausbildungszeiten forderte. Zunächst geschah nichts – doch fast 20 Jahre später, im Jahr 1987, mündete Corradis Initiative schließlich in ein neues Mobilitätsprogramm namens Erasmus, das im Laufe der nächsten Jahrzehnte Millionen von Studierenden einen Auslandsaufenthalt ermöglichen sollte.
Endlose Möglichkeiten
Heute fördert das Mobilitätsprogramm unter dem Namen Erasmus+ nicht nur studienbezogene Aufenthalte, sondern auch eine Bandbreite weiterer Mobilitätsformen – etwa für Schüler:innen, Pädagog:innen oder Lehrlinge. Darüber hinaus gibt es Trainings, Jugendbegegnungen sowie den Europäischen Solidaritätskorps (ESK), und auch Auslandspraktika während oder kurz nach dem Studium werden von Erasmus+ gefördert. Die große Besonderheit des Programms ist die finanzielle Unterstützung, die sämtliche Teilnehmer:innen erhalten – so wird allen jungen EU-Bürger:innen, unabhängig von Herkunft und finanziellen Möglichkeiten, ein Auslandsaufenthalt ermöglicht. Dank der Vorarbeit von „Mamma Erasmus“ Corradi können sich Studierende die meisten im Ausland absolvierten Kurse auch an ihrer eigenen Universität anrechnen lassen.
Leonie Loipold
© Pachler
Von Ostbelgien bis an die Adria
Ein lebendes Beispiel dafür, wie umfassend das Angebot von Erasmus+ genutzt werden kann, ist die Kärntnerin Leonie Loipold. Ihren ersten Auslandsaufenthalt absolvierte Loipold direkt nach der Schule – im Rahmen eines Freiwilligendienstes verbrachte sie zehn Monate in Eupen, einer Stadt im deutschsprachigen Teil Belgiens. Dort arbeitete sie in einer Nachmittagsbetreuung. Die Unterkunft und ein Taschengeld wurden ihr zur Verfügung gestellt, und auch Organisation und Reisekosten übernahm das Erasmus-Netzwerk. Wenig später zog es Loipold erneut ins Ausland: Ein Jahr verbrachte sie in Zadar, studierte an der örtlichen Universität und lernte das Leben an der kroatischen Küste kennen. Kurz nach ihrer Rückkehr begann die Pandemie – doch kaum waren die Reisebeschränkungen aufgehoben, brach Loipold wieder auf. Ihren dritten Erasmus-Aufenthalt absolvierte sie in Triest, wo sie ein Jahr lebte und ein Praktikum im Bereich Deutsch als Fremdsprache an der Triestiner Universität absolvierte.
All diese Aufenthalte, Erlebnisse und Freundschaften, so Loipold, hätte es ohne Erasmus nicht gegeben. Auch mit einer normalen Reise sei das Programm nicht zu vergleichen: „Es ist ein Unterschied, ob man ein paar Wochen Urlaub im Ausland macht oder ob man wirklich dort lebt. Denn dann muss man sich auch mit Alltagsdingen beschäftigen: Wohnungssuche, Gas anmelden, Rechnungen zahlen.“ Erasmus sei in dieser Hinsicht eine gute Möglichkeit, sich auch in einer fremden Umgebung immer auf ein unterstützendes Netzwerk verlassen zu können.
Gonçalo Silva
© FH Kärnten
Von Portugal nach Kärnten
Diese Ansicht teilt auch der Portugiese Gonçalo Silva, der kürzlich ein von Erasmus+ gefördertes Praktikum an der FH Kärnten in Villach absolvierte. Dort war er für das Marketing der Fachhochschule zuständig und brachte sich insbesondere im Büro der European Universities Initiative ACE2-EU ein. Auch Silvas Hochschule in Santarém ist Teil dieses Netzwerks – die Empfehlung seiner dortigen Vorgesetzten brachte ihn auf die Idee, nach seinem Abschluss ein halbes Jahr in Villach zu verbringen. Am Anfang war es nicht einfach für ihn, in der neuen Umgebung Anschluss zu finden: „Es war ein Kulturschock. Die Menschen sind sehr anders als in Portugal und ich habe anfangs viel Zeit allein verbracht“, erzählt Silva.
Doch auch für ihn war das Praktikum in Villach nicht der erste Erasmus-Aufenthalt. Schon während seines Bachelors studierte er für ein Semester in Sevilla. Eine Erfahrung, die seinen Blick auf die Welt grundlegend verändert hat: „Durch Erasmus haben sich meine Prioritäten geändert. Ich habe gelernt, dass gute Dinge passieren, sobald ich meine Komfortzone verlasse. Veränderung macht mir keine Angst mehr.“ Mit dieser Einstellung schaffte Silva es schnell, das Beste aus der Anfangszeit in der ungewohnten Umgebung zu machen. Er lebte sich in Kärnten ein, lernte neue Freund:innen kennen und genau wie bei seinem ersten Erasmus-Semester war er auch diesmal traurig, als sein Aufenthalt schließlich zu Ende ging: „Ich sehe schon, es wird mir wieder das Herz brechen“, erklärte er lachend kurz vor seiner Rückkehr nach Portugal.
Verbunden in Vielfalt
Europa, Freiheit, Reisen, Sprachen und interkultureller Austausch – all das sind Werte und Erfahrungen, die mit Erasmus in Verbindung gebracht werden. Das Zentrum ihrer Auslandsaufenthalte bilden für Silva und Loipold jedoch ganz klar die Menschen. „Für mich steht Erasmus für all die Freundschaften, die währenddessen entstanden sind“, erzählt Silva, und auch Leonie Loipold ist nach Jahren noch mit internationalen Freund:innen aus ihren Erasmus-Aufenthalten in Kontakt. Nach fast 40 Jahren Erasmus umspannt Europa ein dichtes Netz aus Freundschaften – unzählige Beziehungen nahmen ihren Anfang auf Erasmus-Partys in allen Ecken der EU, die ältesten „Erasmus-Babys“ sind heute über 20 Jahre alt.
Die Vorstellung, allein in einem fremden Land zu leben, womöglich ohne Sprachkenntnisse und ohne soziales Netz, mag für manche einschüchternd wirken. Doch dass sich der Sprung ins kalte Wasser lohnt, steht für Loipold und Silva außer Frage. „Diese Möglichkeit kommt nicht wieder – es gibt sie nur, wenn du jung bist“, appelliert Silva an alle Erasmus-Interessierten. Und auch Loipold spricht eine klare Empfehlung aus: „Ins Ausland zu gehen, sich ein neues Umfeld, einen Freundeskreis aufzubauen, das ist schon mutig. Aber das, was man dafür bekommt, ist es absolut wert.“
Generation Erasmus
Es ist das erklärte Ziel des Erasmus-Programms, das gegenseitige Verständnis, die Verbundenheit mit Europa und den Zusammenhalt der EU-Bürger:innen über nationale Grenzen hinweg zu fördern. Dass dieses Ziel aufgeht, zeigen nicht nur die Geschichten von Leonie Loipold und Gonçalo Silva. Europaweiten Erhebungen zufolge fühlen sich 83 % der Erasmus-Geförderten stark mit Europa verbunden. 81 % von ihnen beteiligten sich im Jahr 2014 an der Europawahl – die europaweite Wahlbeteiligung lag im Vergleich bei nur 43 %. Heute in ihren Zwanzigern, sind Loipold und Silva zu jung für ein Europa der geschlossenen Grenzen. Dass die EU der Schlüssel zu ihren Abenteuern im Ausland ist, ist beiden dennoch mehr als bewusst. Dafür sei sie sehr dankbar, resümiert Loipold, und fügt schmunzelnd hinzu: „Ich fühle mich weder als Gen Z noch als Millenial – aber ich finde es schön, dass ich Teil der Generation Erasmus bin.“
WISSENSWERT
Im Jahr 1987 beteiligten sich elf europäische Länder am Austauschprogramm Erasmus – 3.244 Studierende nutzten damals die neue Möglichkeit für ein Studium im Ausland. Mittlerweile sind alle 27 EU-Staaten sowie Norwegen, Island, Liechtenstein, Nordmazedonien, Serbien und die Türkei Teil des Mobilitätsprogramms.
Allein in Österreich nahmen zwischen dem EU-Beitritt und dem Jahr 2022 mehr als 350.000 Menschen an Erasmus+ geförderten Projekten teil, europaweit sind es heute bereits mehr als 16 Mio. Teilnehmer:innen.