Raphael M. Bonelli
„Das Herz ist die Entscheidungsmitte des Menschen“
YAvida: Sinnorientierung und Wirtschaft. Was ist aus Ihrer Sicht in diesem Kontext besonders wichtig?
Raphael M. Bonelli: Ich habe immer wieder Patienten, die sagen, sie verdienen viel Geld, aber sehen keinen Sinn darin, was sie machen. Nur Geld anhäufen ist in sich überhaupt kein Sinn. Im Grunde sind das Zahlen. Aber wenn man das kombinieren kann. Denn natürlich muss man Geld verdienen und es ist auch nicht schlecht viel Geld zu verdienen. Erstens einmal ist es gut, wenn man spürt, wie sinnvoll das ist, was man da tut. Und zweitens ist es gut, wenn man etwas Sinnvolles mit dem Geld macht, wie zum Beispiel eine Familie zu gründen.
Etwas, das in der heutigen Zeit oft vernachlässigt wird, ist das Wir-Gefühl. Wie können wir es wieder schaffen vom Ich zum Wir kommen?
Vom Ich zum Wir. Ein geniales Konzept von Fritz Künkel, das beschreibt, dass viele Menschen einfach um sich selbst kreisen den ganzen Tag und eigentlich nur darüber nachdenken, wie es ihnen geht oder wie sie ankommen oder ob sie wertgeschätzt werden und alles auf sich selber beziehen. Und die Wir-Haftigkeit – auch Sachlichkeit genannt – ist die Fähigkeit eben im Gemeinschaftsgefühl aufzugehen. Das heißt auch den anderen wahrzunehmen und sich selbst auf gleiche Ebene wie das Du zu stellen. Der Ich-Hafte hat das Ich im Zentrum und alle anderen sind peripher. In der Wir-Haftigkeit hingegen ist jeder auf gleicher Ebene, auch das Ich. Das muss jeder Mensch in sich zurückstutzen. In der Tugendlehre von Aristoteles wäre das die Gerechtigkeit. Gerechtigkeit reduziert sich selber und gibt jedem das seine: Mir das meine und dir das deine, sodass man selber auch nicht zu kurz kommt und jeder sozusagen seinen Teil kriegt. Das ist natürlich ein geniales Konzept, gerade für die Wirtschaft.
Welche Rolle spielen dabei die Medien?
Viele Medien haben in den letzten drei Jahren mitgemacht bei der Spaltung der Gesellschaft, indem sie leider eine Gruppe stark ausgegrenzt haben. Das heißt sie haben denen niedere Motive unterstellt und ihnen sogar mehr oder weniger die Menschenwürde abgesprochen. Ich glaube, was für den journalistischen Wertekodex ganz wichtig wäre, ist wieder zurückzugehen in die Neutralität und nicht dieser Haltungsjournalismus, der selbst stark Stellung bezieht und eben vorgibt zu wissen, was gut und böse ist. Das ist eine Verfehlung der Rolle. Ich weiß auch von vielen Journalisten, dass der Chefredakteur oft die Blattlinie vorgibt, wo man dann das eine oder andere Interview gar nicht bringen darf, obwohl es fertig ist. Das ist mir auch selbst schon passiert. Das heißt, die Medien stellen sich an die Stelle des Experten und suchen solange einen Experten, bis der Experte das sagt, was sie hören wollen. Das passiert ja nicht nur bei den Medien, sondern auch bei Politikern immer mehr. Die Wahrheit ist offensichtlich wandelbar. Dasselbe passiert auch bei Wissenschaftlern. Politik und Medien haben beschlossen, wer ist der richtige Wissenschaftler und wer ist ein falscher Wissenschaftler. Diese Kompetenz haben weder Medien noch Politik.
Stichwort „Richtig und Falsch“: Anhand der drei Instanzen Bauch-Kopf-Herz beschreiben Sie prägnant, wie Menschen Entscheidungen treffen.
Die Bauchgefühle sind das Erste, was der Mensch hat. Damit kommt er quasi auf die Welt. Das prägt ihn stark, nach dem Prinzip Lustmaximierung und Unlustvermeidung von Siegmund Freud. Das sind emotionale Dimensionen, wo es um Unmittelbarkeit geht. Wo man sehr schnell und ohne es zu reflektieren eine Emotion – also eine Antwort – entwickelt oder eine emotionale Beurteilung. Daher braucht es eine höhere, zweite Instanz. Wenn das eine die These ist, dann wäre die zweite Instanz die Antithese. Das ist die Vernunft, das ist der Kopf. Die Vernunft kann reflektieren. Der Mensch kann sich überlegen: Ist das überhaupt gut, will ich das, ist das vernünftig? Der Kopf denkt eben langfristig und nicht wie der Bauch kurzfristig, kann auch planen und sagen: Wenn ich abnehmen will, dann muss ich jeden Tag mein Bauchgefühl des Essens überwinden und weniger Essen und Hunger verspüren. Aber die dritte und wichtigste Ebene ist das Herz. Nur dort ist der Mensch auch wirklich frei. Das Herz ist die Entscheidungsmitte des Menschen. Im Herz haben wir den freien Willen. Das Herz kann sich anhören die These und die Antithese und daraus eine Synthese machen. Diese beinhaltet in gewisser Weise natürlich den Inhalt der Bauchgefühle, aber eben auch die Vernunft. Und wenn er eine gute Synthese macht, ist das ein Mensch, der in sich geschlossen ist, der in sich eine Einheit bildet. Und da gibt es natürlich die Dimension der Werte. Die Werte sind im Herzen ganz wichtig. Das Gewissen: Entsprechen meine Handlungen meinen Werten? Die Tugenden sind der richtige Umgang mit dem Bauch und der richtige Umgang mit der Vernunft. Und zuletzt nenne ich es das innere Heiligtum: Das heißt dort, wo wir Spiritualität erleben oder leben oder wo wir beten. Das sind die drei Instanzen des Menschen.
„YAvida – Ja zum Leben“, so der Titel dieses Magazins. Was bringen Sie damit in Verbindung?
Viktor Frankl hat ja ein Buch geschrieben „Trotzdem ja zum Leben sagen“. Eigentlich ist das Wort „trotzdem“ fast das wichtigste. Lebensbejahend heißt natürlich nicht nur aversive, sondern auch affirmative Gefühle. Die Aversiven sagen Nein, das ist die Angst. Das kann auch schnell in einen Hass kippen, wie wir bei Corona gesehen haben. Und „Ja zum Leben“ heißt eben auch affirmative Gefühle. Eben ja sagen, ja zum Schönen. Ich arbeite mit meinen Patienten sehr häufig daran, dass sie lernen, das Schöne zu erkennen, dass sie lernen zu genießen. Aber ganz wichtig ist dieses „Ja zum Leben“ in enger Zusammenarbeit mit dem Herzen. Ein „Ja zum Leben“ aus dem Bauch heraus kann es nur geben, wenn das Herz dabei ist. Wenn das Herz sozusagen in eine andere Richtung zieht, wenn man sich sozusagen auslebt, was nicht seinen Werten entspricht – das passiert ja auch häufig – dann ist man langfristig unglücklich. Es geht ja nicht um eine kurzfristige Befriedigung im „Ja zum Leben“, sondern um ein langfristiges Glück. Und ein „Ja zum Leben“ heißt manchmal Nein zur kurzfristigen Befriedigung.