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Leben
25.01.2025

Den eigenen Lebensrhythmus finden

In unserer heutigen Zeit sind wir mit einer Flut an Informa­tionen und äußeren Reizen konfrontiert. Umso bedeu­tender ist es, ein gesundes Körper- und Natur­bewusst­sein zu entwickeln.

Dr. Wolfgang Hofmeister ist Arzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Unfallchirurgie in Patergassen mit Ausbildung in Traditioneller Medizin. Seit über 40 Jahren begleitet er Menschen aktiv als Arzt – von der Wiege bis zur Bahre. Im Interview mit YAvida erläutert er, warum es wichtig ist, wieder ins Spüren zu kommen.

YAvida: Warum spüren wir uns nicht mehr?

Wolfgang Hofmeister: Weil wir nicht mehr authentisch sind und weil wir nicht mehr artgerecht leben. Seit dem späten Industriezeitalter hat der Mensch begonnen, vermehrt zu sitzen und sich auf technische Belange zu verlassen. Wir nehmen heute an einem Tag mehr Informationen auf, als ein Mensch im Mittelalter in seinem ganzen Leben. Und es geht keine Information verloren – weder im großen Internet, noch in unserem Gehirn. D. h. wir leben heutzutage sehr stark von äußeren Reizen, also den äußeren Sinnen. Beim Spüren geht es jedoch um unsere inneren Sinne – Riechen, Schmecken, Sehen, Hören, Tasten – und um das Sinn haben! Das Spüren ist evolutionsbiologisch eindeutig für das Überleben verantwortlich. Diese Überlebenssinne werden in unserer Zeit jedoch in den Körper verdrängt. Wenn man sie nicht anwendet und nur kopforientiert lebt und „zu informiert“ ist, kommt es zu einer Körperentfremdung, ja zu einer Selbstentfremdung.

Was bedeutet das konkret?

Wenn man sich selbst nicht spürt, ändert sich das Sozialverhalten. Wie also soll ich dann bei jemand anderem etwas spüren? Eine Empathie ist fast nicht möglich, weil der Sinnesaustausch nicht mehr von einer zur anderen Person fließt, sondern – bildlich gesprochen – weggewischt wird. Auch die Wischbewegung am Touchscreen des Mobiltelefons wird nicht gefühlt wahrgenommen. Und so entsteht eine Dysbalance zwischen Körper und Geist. Mit der Selbstentfremdung einher geht die Naturentfremdung, weil der Mensch nicht mehr im Rhythmus der Natur lebt.

„Beim Spüren geht es um unsere Sinne – Riechen, Schmecken, Sehen, Hören, Tasten – und um das Sinn haben.“

Wolfgang Hofmeister

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Wie äußert sich das?

Die Folgen der Naturentfremdung zeigen sich dadurch, dass Ernährung, Bewegung, Bewusstsein und Lebensrhythmus gestört werden. Auf die Ernährung bezogen: Wir wissen nicht mehr genau, was jetzt wirklich noch gut für uns ist und was nicht, weil wir den Geschmackssinn verloren oder durch Geschmacksverstärker verblendet haben. Die Resultate: Ein massiver Anstieg der Intoleranzen, Allergien und vieler sogenannter Zivilisationskrankheiten. Auch der Bewegungsapparat bekommt ein großes Problem, wenn ich mich nicht mit der Natur auseinandersetze. Aber vor allem das Bewusstsein, ich habe keinen Halt mehr! Der Bewegungsapparat verkümmert zum „Sitz- und Wischapparat“ und speichert in schmerzhaften Ablagerungen die einlangende Informationsflut. Man kann also sagen: Mit dem Nichtnutzen unserer höchstpersönlichen Überlebenssinne begeben wir uns in eine Selbstentfremdung, durch die man den Bezug zur Natur verliert und in den Symptomkomplex der Naturentfremdung eintaucht.

Welche Bedeutung hat das Bauchgefühl?

Das Bauchgefühl, die intuitive Schnellentscheidung – das wird in der heutigen Zeit sehr stark verdrängt, eigentlich seitdem René Descartes im 17. Jahrhundert gesagt hat: „Cogito ergo sum. Ich denke, also bin ich“. Doch genau das führt zur Körperentfremdung und der Körper reagiert mit allen Sinnen und allen Organen. Ich würde heute eher sagen: „Tango ergo sum! Ich berühre, daher bin ich“. Weil Berührung berührt.

„Uns selbst beachten heißt, unsere Körper­nach­richten zu spüren.“

Wolfgang Hofmeister
Was kann man also tun, um das Körperbewusstsein zu erleben bzw. Körper, Seele und Geist (immer) wieder in eine Balance zu bringen?

Der einfachste Weg führt in die Natur, wenn ich aus der Balance bin. Diese Möglichkeit steht in Österreich quasi jedem Menschen jederzeit offen und kostet nichts. Auch traditionelle Rituale sind häufig naturverbunden und unterstützen das. Der zweite Weg ist für mich das Genießen: Das Schmecken und Riechen von dem, was ich jeden Tag tun muss – und zwar essen! Und das wirklich mit Genuss, denn das erhöht das Serotonin. Einmal am Tag auf den Teller schauen und denken: Wie und wo hat das gelebt, was ich schlucken werde? Quasi eine Verinnerlichung, dass ich mit der Natur in Verbindung bin. Desto mehr verfälscht dieses Essen jedoch ist, desto weniger komme ich dorthin.

Eine weitere Sache, die heute durch die Informationsflut nahezu verloren geht, ist die Kraft der Vorstellung! Diese gilt es zu trainieren. Und nicht zu vergessen: Eine gesunde Atmung, die ganz wesentlich ist für unseren Lebensrhythmus! Nahezu alle Methoden zur Stärkung der Lebenskraft wie Meditationen, Yoga, Chi Gong oder Thai Chi nehmen Bezug auf die Atmung. All das unterstützt den eigenen Lebensrhythmus und unsere Authentizität!

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