BITTGEDANKE, DIR ZU FÜSSEN
Stirb früher als ich, um ein weniges früher
Damit nicht du den weg zum haus allein zurückgehn mußt
Mit der Geschichte rund um den Grabstein in Roermond gibt Arnold Mettnitzer Einblicke rund um das Tabuthema Tod.
YAvida: In unserer westlichen Kultur kommt das Ende des Lebens im kollektiven Bewusstsein nicht vor. Warum ist das so?
Arnold Mettnitzer: Tod, Krankheit, Älterwerden, die einschneidenden und entscheidenden Wenden des Lebens werden aus dem Alltag ausgeblendet und in Sonderbereiche verlegt. Offensichtlich steckt da unbewusst die Absicht dahinter, unsere Sozialästhetik nicht durch behinderte, bedürftige, sterbende Menschen zu „beleidigen“. Aber je mehr wir so das Leiden und Sterben versuchen von uns wegzuschieben, desto mehr müssen wir die Fiktion des leidensfreien und unsterblichen Menschen aufrechterhalten. Schon Sigmund Freud hatte darauf hingewiesen, dass Menschen wüssten, dass sie sterben müssen, weil aber bisher immer nur die anderen gestorben sind, halten sich die Lebenden für unsterblich und führen sich auch dementsprechend auf. In anderen Kulturen, und früher auch in unserer, war der Tod ein Teil des Lebens. Man erlebte das Sterben der Großeltern und Eltern, anderer Verwandter und Angehöriger immer wieder auch als eine irgendwie entfernte Vorbereitung auf den eigenen Tod. Das Sterben im Kreis der Familie, die Krankenbesuche, die Verabschiedung und die religiösen Bräuche um Kranke und Sterbende waren solcherart nicht nur eine Sterbe-, sondern auch eine Lebensschule.
Wie kann die Auseinandersetzung mit dem Tod in unserer Gesellschaft aus Ihrer Sicht besser gelingen?
Dadurch, dass wir den Tod nicht als Störenfried begreifen, der unser „Fest unserer Unsterblichkeit auf Zeit“ (George T. Roos) beendet, sondern als Teil unseres Lebens, der das Leben erst ganz macht. Schon die griechische Antike hat den Inbegriff aller Weisheit (und damit den Sinn aller Philosophie) darin gesehen, das Leben als „ars moriendi“ zu begreifen, als Kunst, uns auf unser Sterben vorzubereiten. In diesem Zusammenhang verdanke ich Reiner Kunze eines seiner schönsten Gedichte, seiner Frau gewidmet:
BITTGEDANKE, DIR ZU FÜSSEN
Stirb früher als ich, um ein weniges früher
Damit nicht du den weg zum haus allein zurückgehn mußt
Hier wird deutlich, dass der Tod als Ernstfall des Lebens auch der Ernstfall der Liebe ist und dass diese Liebe so weit reicht, dass ein geliebter Mensch dem von ihm geliebten Menschen den Tod wünscht, „um ein weniges früher“, damit ihm der Schmerz erspart bliebe, den Weg vom Grab zum Haus allein zurückgehen zu müssen.
Arnold Mettnitzer
Warum ist es wichtig Abschied zu nehmen?
Jede Trauer ist individuell. Weil beim Tod eines Menschen auch eine Beziehung stirbt, wird mit einem Menschen auch ein Teil derer zu Grabe getragen, die zurückbleiben. Deshalb stellt der Tod eines Menschen jeden einzelnen in Frage, der um diesen Menschen trauert, und dieser reagiert darauf unverwechselbar und auf seine ganz persönliche Weise mit Betroffenheit, Traurigkeit, Verlustgefühlen, Verlassenheitsängsten, Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht, – aber auch mit Dankbarkeit für eine unverwechselbare Art einer persönlichen Beziehungsgeschichte. Darum ist keine Trauer mit der Trauer eines anderen Menschen vergleichbar; darum ist jede Trauer um einen Menschen einmalig. Und darum ist es im besten Sinn des Wortes notwendend, „Trauerarbeit“ zu leisten, sich die Zeit zu geben, die die Seele braucht, um sich von einem Menschen gebührend zu verabschieden. Im Durchschnitt benötigt dieser Verabschiedungsprozess mindestens drei Jahre.
Wie kann man anderen in der Trauer beistehen?
Da muss ich an meine Zeit als Seelsorger in Klein St. Paul denken. Belinda, meine acht Jahre alte Ministrantin, bat mich nach der Abendmesse, mit ihr ins Haus ihres sterbenden Opas zu kommen. Mit in sein Zimmer gehen wollte sie nicht. Schlussendlich aber haben wir uns dann doch mit der ganzen Familie um das Sterbebett des seit Tagen im Koma liegenden Großvaters versammelt. Beim gemeinsamen „Vater unser“ bewegte der Sterbende plötzlich seine Lippen, betete mit und hauchte nach dem Beten für uns alle hörbar sein Leben aus. Belinda schaute mich an und sagte dann zu mir: „Jetzt habe ich keine Angst mehr vor dem Sterben!“ Was ich damit sagen will: Es gibt ungezählte Möglichkeiten, anderen in der Trauer beizustehen. Freilich gibt es dazu keine Patentrezepte. Gemeinsames Beten, wenn es gewünscht, aber nicht aufgedrängt wird, kann sehr tröstlich sein. Das Wichtigste dabei aber scheint mir darin zu bestehen, auf billige Trostworte zu verzichten und es aushalten zu können, dass der Tod stumm macht und nicht mit Erklärungsversuchen wegzudiskutieren ist. Ein stiller Händedruck und eine herzliche Umarmung sagen bei solchen Gelegenheiten mehr als jedes gut gemeinte Wort.
Grabstein in Roermond 1880–1888
Text: Arnold Mettnitzer
Auf dem alten Friedhof von Roermond in Holland befindet sich eine bemerkenswerte Grabstätte. Weil der im Jahre 1880 verstorbene Mann nicht auf dem katholischen Friedhof beerdigt werden darf, kauft die Familie einen Grabplatz außerhalb der Friedhofsmauer und bestattet ihn dort. Als seine Frau acht Jahre später stirbt, wird sie von ihren Kindern auf dem katholischen Friedhof an der Innenseite der Friedhofsmauer beerdigt. Dabei überragen die beiden Grabsteine die Friedhofsmauer und werden mit zwei marmornen Händen verbunden. Was vor 135 Jahren getrennt werden sollte, ist bis heute verbunden. Und der Grabstein in Roermond belegt, dass Konventionen, gesellschaftliche Normen und religiöse Vorschriften niemals das letzte Wort beanspruchen dürfen. Der Volksmund sagt: „Liebe macht blind!“ Der Grabstein in Roermond sagt: „Liebe macht erfinderisch“, sie ist stärker als der Tod. Liebe hört niemals auf.
ZUR PERSON
ARNOLD METTNITZER
(geb. 1952 in Gmünd/Kärnten, Studium der Theologie in Wien und Rom) ist seit 1996 Psychotherapeut in freier Praxis in Wien sowie Buch- und Hörbuchautor zu Fragen von Gesundheit und gelungenem Leben.