Die Pflege eines Menschen erfordert psychisch und physisch viel Kraft. – Foto: Unsplash/Dominik Lange
Gesundheit
10.04.2021

Pflegende Angehörige holen sich oft sehr spät Hilfe

Hilfswerk-Kärnten-Pflegedienstleiterin Hermine Pobatschnig spricht mit advantage über die Situation pflegender Angehöriger. Sie spricht sich für eine Aufwertung mobiler Dienste aus.

advantage: Die allererste Frage, wenn Angehörige ihr Leben nicht mehr selbst bestreiten können: Selbst pflegen oder eine Betreuungseinrichtung in Anspruch nehmen? Gibt es eine Art „Leitfaden“ oder Fragen, die man sich selbst stellen sollte, bevor man diese Entscheidung trifft?

Hermine Pobatschnig: Das hängt davon ab, welche Unterstützung der bzw. die Angehörige braucht. Wird Hilfe bei den Erledigungen des Alltags benötigt oder muss beispielsweise auch die Wundversorgung erfolgen? Hier rate ich dringend an, schon im Vorfeld mit professionellen Pflegekräften zu sprechen. Im Hilfswerk bieten wir dazu eine kostenlose Erstberatung an, die vom Land Kärnten finanziert ist, um bei dieser Entscheidung behilflich zu sein.

Wenn man sich entscheidet, selbst zu pflegen: Welche sind die Grundvoraussetzungen oder Skills, die man mitbringen sollte?

Auch hier kann man nicht verallgemeinern. Grundsätzlich muss man sich dessen bewusst sein, dass die Pflege eines Menschen psychisch und physisch viel Kraft erfordert und natürlich das eigene Leben fortan bestimmt. Deshalb sollte man sich unbedingt Unterstützung holen. Auch dies wird mit Angehörigen in unserem Erstgespräch erörtert.

Gibt es immer noch das häufige Problem, dass unser Umfeld davon ausgeht, dass wir unsere Eltern/Lebenspartner selbst pflegen „müssen“? Dass man Angehörige aus Egoismus ins Heim „abschiebt“?

Oft ist es weniger das Umfeld, sondern der pflegende Angehörige selbst, der sich diesen Druck macht. Außerdem ist es nicht immer möglich, selbst zu pflegen, da es die Lebensumstände nicht zulassen. Deshalb rate ich, sich schon im Vorfeld rechtzeitig darüber Gedanken zu machen, wie man gerne alt werden möchte, und dies mit der Familie zu besprechen.

Was sind die größten Probleme der pflegenden Angehörigen, die sich an Sie wenden?

Das größte Problem ist meistens die massive Überlastung. Leider melden sich pflegende Angehörige oft erst sehr spät. Sie erzählen häufig, dass sie bereits monatelang nicht einmal mehr selbst zum Arzt gehen konnten, geschweige denn einmal zum Friseur oder einfach nur ins Kaffeehaus. Wir würden uns da wünschen, dass wir schon viel früher zu Rate gezogen werden. Ein frühzeitiges Beratungsgespräch würde den pflegenden Angehörigen vieles erleichtern.

Hermine Pobatschnig

"Das größte Problem ist meistens die massive Überlastung. Leider melden sich pflegende Angehörige oft erst sehr spät."

Körperliche und seelische Erschöpfung treten bei pflegenden Angehörigen häufig auf: Was sind die Warnsignale?

Sehr viele pflegende Angehörige schildern, dass sie nachts nicht mehr schlafen können oder keine Lust mehr haben, etwas zu essen, weil sie so erschöpft sind. Es kommt auch immer wieder vor, dass sie eine regelrechte „Abneigung“ gegenüber den zu pflegenden Angehörigen empfinden.

Welche Entlastungsmöglichkeiten gibt es in Kärnten?

Es gibt ganz unterschiedliche Möglichkeiten – von den mobilen Diensten bis hin zur 24-Stunden-Betreuung. Auch hier sollte man sich mit einer Fachkraft unterhalten, die auf die individuelle Situation eingeht und dementsprechend die Angebote bespricht. Oft hilft eine kleine Auszeit, oft hilft es, sich mit gleich Betroffenen in einer Selbsthilfegruppe auszutauschen. Jeder Mensch hat andere Bedürfnisse und danach sollte die Hilfe ausgesucht werden.

Das Hilfswerk arbeitet beispielsweise hervorragend mit den Pflegekoordinatoren des Landes zusammen, die in einigen Kärntner Gemeinden den pflegenden Angehörigen als erste Ansprechperson zur Verfügung stehen.

Über 80 Prozent der Pflege- und Betreuungsleistungen werden in Österreich von pflegenden Angehörigen geleistet. Was muss passieren, um ihre wertvollen Dienste noch besser abzugelten?

Um die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf zu ermöglichen, könnte ein Bonus helfen, um damit flexible Arbeitszeiten und Teleworking zu ermöglichen. Auch die Möglichkeit, zusätzliche Pensionsbeitragszeiten zu erwerben, wäre wichtig. Zudem bedarf es unbedingt einer Aufwertung der mobilen Dienste, denn diese sind es, die Angehörige am besten unterstützen können.

Welche Aus- und Weiterbildungsangebote gibt es für pflegende Angehörige? Ist das Angebot Ihrer Meinung nach ausreichend?

Wichtig ist hier, dass flächendeckende Angebote geschaffen werden, nicht nur im Ballungsraum. Die Hilfswerk-Akademie bietet beispielsweise immer wieder unterschiedliche Kurse an – auch in den Bezirken –, an denen nicht nur Mitarbeiter, sondern ebenso externe Interessierte teilnehmen können.

In Kärnten droht die Bevölkerung in den nächsten Jahren noch stärker zu überaltern. Auch Abwanderung ist ständiges Thema. Droht das System zusammenzubrechen?

Das System droht noch nicht zusammenzubrechen, aber die Politik muss Pflege in vielen Bereichen neu denken. Die Menschen wünschen sich, zu Hause würdevoll alt werden zu können, das bedeutet, dass man hier seitens der Politik die dementsprechenden Rahmenbedingungen schaffen muss, vor allem im Bereich der mobilen Dienste.

Das Projekt „mehrstündige Betreuungsleistung“ wird ja weitergeführt und sogar erweitert. Wurde es bisher gut angenommen?

Ja, das Projekt wurde gut angenommen. Es gibt allerdings noch einige Dinge, die – wie bei fast jedem Pilotprojekt – verbessert werden müssen. Vor allem was Haftungsfragen im Zusammenhang mit der Berufsgruppe der Heimhilfe anbelangt. Zudem sollte es generell auf die unterschiedlichen Berufsgruppen in der Pflege ausgebaut werden, um eine adäquate Betreuung der Pflegebedürftigen zu gewährleisten.

Unterstützung für pflegende Angehörige

Mehrstündige mobile Dienste:

  • Regelbetrieb seit 1. Februar 2021
  • Betreuungspakete: 4, 5, 6, 7, 8 oder 10 Stunden am Stück
  • Selbstbehalt um 50 Prozent reduziert
  • Zielgruppe: pflegende Angehörige, alleinstehende Senioren (Voraussetzung: Bezug von Pflegegeld oder Vorliegen einer ärztlichen Bestätigung einer demenziellen Erkrankung)
  • Erstgespräch mit diplomierter Gesundheits- und Krankenpflegefachkraft kostenlos

Kurzzeitpflege:

  • 28 Tage pro Jahr kostenlos

Urlaub für pflegende Angehörige:

  • kostenlos in einem Kurhotel mit allen Anwendungen, inklusive psychologische Beratung (wenn erwünscht)

Weitere Maßnahmen in Kärnten:

  • kontinuierlicher Ausbau der mobilen Dienste
  • Ausbau der Tagesstätten und Senkung des Selbstbehalts in Tagesstätten
  • Projekt Pflegenahversorgung in bereits 50 Gemeinden umgesetzt
  • Projekt „Ehrenamt in der Pflege-Nahversorgung“ seit Oktober 2020 (Stopp wegen Lockdown, Neustart im April 2021): Land bietet eine kostenlose Ausbildung, einen offiziellen Ausweis; amtliches Kilometergeld; kostenlose Haft- und Unfallversicherung – Entlastung für pflegende Angehörige, wenn z. B. jeden Mittwoch von 14 bis 16 Uhr ein Ehrenamtlicher kommt.
  • regelmäßige Pflegestammtische in den Gemeinden
  • Pflegekurse, Pflegeseminare
  • kostenloses tägliches Pflegetelefon
  • kostenlose GPS-Stellen (Gesundheits-Pflege-Service) in allen Bezirken: Beratung, Hilfestellung, Mitarbeiter kommen – wenn gewünscht – auch nach Hause
  • Unterstützung vidahelp (Bewertung von 24-Stunden-Betreuungsagenturen)
Die Pflege eines Menschen erfordert psychisch und physisch viel Kraft. – Foto: Unsplash/Dominik Lange
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