think about: Über die Neuvermessung der Wirtschaft
Karlsruhe und Den Haag – zwei Städte, die in den letzten Wochen haben von sich reden lassen. Und das mit gleichlautender Begründung: Klimaschutz. In Karlsruhe verpflichtete der Beschluss des Verfassungsgerichtshofes den Staat Deutschland, entschiedener für die Einhaltung der Pariser Klimaziele einzutreten. Strengere Gesetze, klarere Regelungen, gezielte Förderung und höhere Bepreisung von klimaschädlichen Handlungen als Grundrechtsfrage. Klare ökologisch steuernde Rahmenbedingungen werden die Wirtschaft verpflichten müssen, sich ökologische und damit verbundene soziale Themen stärker an die Brust zu nehmen. Die Zeit der vorrangigen Gewinnmaximierung kommt an ihr Ende.
Ändert sich die wirtschaftliche Ordnung?
Noch bemerkenswerter der Blick auf Den Haag, hier verurteilte ein Bezirksgericht einen privaten Konzern. Das Gericht von Den Haag verlangt unter Berufung auf die allgemeine unternehmerische Sorgfaltspflicht, dass der britisch-niederländische Ölkonzern Shell seine globalen Emissionen an klimaschädlichem Kohlendioxid bis 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 reduziert. Dies inklusive all jener Emissionen, die beim Verbrauch aller Öl- und Gasprodukte entstehen, die der Konzern irgendwo auf der Welt vertreibt. Sie machen den weitaus größten Teil des Klima-Fußabdrucks der Geschäftsaktivitäten von Shell aus. Ein Präzedenzfall für die menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen, wie es Marlene Grunert in der FAZ vom 4. Juni 2021 tituliert.
Zerstört ein Urteil wie dieses unsere freiheitliche marktwirtschaftliche Grundordnung? Müssen wir die Mechanismen des Wirtschaftens neu vermessen? Steht das Ziel der Gewinnmaximierung auf dem Spiel? Sollen Unternehmen künftig das Gemeinwohl vor Produktentwicklung stellen? Und entscheiden Gerichte morgen über Konzernstrategien, wenn diese unser Wohl gefährden?
Immer wieder werden Grenzen neu vermessen. Das ändert nicht generell die Besitzverhältnisse, kann aber ihre Grenzen verschieben. Auch in der Wirtschaft. Bei Aristoteles kam der Ökonomie eine wichtige, aber nicht die entscheidende Position zu. Sie diente der Gesellschaft, sie war Mittel zum Zweck eines gelingenden Gemeinwesens. Viele Etappen später postulierte dann Milton Friedman: „The business of business is business.“
Ist betriebswirtschaftlich legitim auch klug?
Was ist mit den Plastikinseln in den Weltmeeren und den Bergen an Lebensmitteln, die produziert, aber nie in den Konsum kommen und entsorgt werden? Mit den Lebendtiertransporten auf Frachtschiffen? Effizienzsteigerung, Kostenminimierung, da nimmt man Überproduktion in Kauf – alles derzeit betriebswirtschaftlich rechenbare und damit legitime Handlungen von Unternehmen.
Die Dinge sind nicht schwarz oder weiß. Aber es ist gewiss: Soziale und ökologische Verantwortung wird für Unternehmen integrativer Bestandteil erfolgreichen Wirtschaftens. Es wird darüber Bericht zu erstatten sein. Und Versäumnisse werden eingeklagt. Die Grenzen werden neu vermessen und die Ränder werden sich verschieben. Wer klug ist, sieht dort heute schon das Potential für neue Geschäfte. Gute Geschäfte.
Blick auf die Region
Wie steht es um die Auswirkungen auf Unternehmen in unserer Umgebung? Waren viele nicht immer schon sehr sorgsam im Umgang mit Umwelt und Mensch. Wir vermuten dies. Aber wenige regionale Unternehmen dokumentieren tatsächlich, wo und wie sie Verantwortung wahrnehmen. Da gibt es Aufholbedarf. Und so manches österreichische Unternehmen wird indirekt doch von den anfangs genannten Gerichtsentscheidungen betroffen sein.
Ein P. S. muss sein
Ein Gedanke noch: Wenn sich die Wirtschaft neu vermisst und das Gemeinwohl die Maxime der Gewinnmaximierung zum Dialog fordert, müssen sich auch wirtschaftliche Ausbildungen mit diesen Fragen stärker auseinandersetzen. Was glauben Sie, wie viele Pflichtlehrveranstaltungen sich an betriebswirtschaftlichen Fakultäten uns naher Universitäten mit solchen Themen beschäftigen und wie viele Führungskräfte im letzten Jahr CSR-Seminare besucht haben? Sie wollen es nicht wissen.
Aber vielleicht darüber reden? iris.strasser@verantwortung-zeigen.at
Zur Person
Iris Straßer leitet „Verantwortung zeigen!“, ein Unternehmensnetzwerk für Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft, und lehrt Nachhaltigkeit und CSR an mehreren Hochschulen.
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