Wie wir Wachstum neu denken können
Das Kreuzfahrtschiff, auf dem Tausende Passagiere auf engstem Raum zusammenleben, bevor sie wieder in die nächste Küstenstadt einfallen. Die Après-Ski-Bar im Tiroler Mekka des Wintersport-Massentourismus, wo man sich ganz dem „Feiern ohne Ende“ verschrieben hat. Der Mega-Großmarkt, über den kolportierte 90 Prozent des Gemüsebedarfs der chinesischen Hauptstadt Peking gedeckt werden. Die riesige Schlachtfabrik eines deutschen Fleischkonzerns, der im Vorjahr mit der „Verarbeitung“ von mehr als 20 Millionen Schweinen über 7 Milliarden Euro Umsatz gemacht hat.
Die Brennpunkte der Coronakrise haben eines gemeinsam: Sie stehen beispielhaft für ein wirtschaftliches Streben, in dem Größenwachstum als der alles entscheidende Faktor gesehen wird. Noch mehr Touristen, noch mehr Konzentration von Marktmacht, noch mehr Millionen geschlachteter Schweine – das alles soll höhere Umsätze bringen, steigende Börsenkurse und fantastische Gewinne für die Aktionäre. Gleichzeitig birgt es aber auch Risiken und Nebenwirkungen in sich, bei denen uns leider weder Packungsbeilage noch ÄrztInnen oder ApothekerInnen helfen können – und zwar nicht nur das Risiko, ein idealer Nährboden für gemeine Viren zu sein, sondern oft auch fragwürdige Arbeitsbedingungen, soziale Ungleichheiten, eine für Körper und Seele ungesunde Beschleunigung des Lebens, und nicht zuletzt auch die Zerstörung unserer Umwelt – und damit auch der Lebensgrundlagen unserer eigenen Kinder und Enkelkinder.
Ja, wir wachsen. Aber wir wachsen auf Pump, und machen dabei eine Art von Schulden, die wir vielleicht nie wieder zurückzahlen werden können. Und wenn wir nicht aufpassen, laufen wir vielleicht sogar Gefahr, am von uns selbst produzierten Wachstum zu ersticken.
Die tückischen kleinen Krankheitserreger zwingen uns nun dazu, für eine gewisse Zeit auf die „Pause-Taste“ zu drücken. Die erzwungene Auszeit gibt uns auch die Chance, wieder einmal bewusst über unsere Wirtschafts- und Lebensweise nachzudenken. Muss das nie enden wollende Größenstreben wirklich für immer die bestimmende Richtschnur unseres wirtschaftlichen Handelns sein und bleiben? Oder kann und muss es nicht auch noch einen anderen Weg geben? „Wir leben am Ende der Zeit der Expansion, und wir wissen noch nicht, was danach kommt“, konstatiert der bekannte deutsche Historiker Philipp Blom. Wie aber könnte sie aussehen, die Zeit danach? Eines ist sicher: Wir werden nicht stehen bleiben. Wir Menschen sind von Natur aus neugierig, wollen dazulernen, uns weiterentwickeln. Es liegt einfach in unserem Wesen, dass wir wachsen wollen. Die große Frage ist daher nicht, ob wir weiter wachsen wollen, sondern wie.
Wir können Wachstum nämlich auch anders denken, nicht nur quantitativ – als „immer mehr“, sondern auch qualitativ – als „immer besser“. Qualitativ zu wachsen bedeutet, mehr echten Wert zu schaffen, nicht nur mehr „Shareholder Value“ – durch bessere Produkte und Dienstleistungen, die das Leben anderer Menschen erleichtern, bessere Arbeits- und Lebensbedingungen für all jene, die am Wertschöpfungsprozess beteiligt sind, mehr gesellschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit.
Arbeitsplätze schmelzen dahin
Manch einer mag jetzt einwenden, dass doch die Maximierung von Profiten der eigentliche und einzige Sinn des Wirtschaftens sei. Schließlich zeigen uns ja die Wirtschaftsnachrichten, worauf es in der Geschäftswelt offensichtlich anzukommen scheint: Kursziele von Börsenanalysten, Rekord-Quartalsergebnisse, „erfolgreiche“ Rationalisierungen, immer größere Unternehmensübernahmen und Fusionen (übrigens stammt das Wort vom lateinischen fusio ab, was „Schmelze“ bedeutet, und nicht selten schmelzen bei solchen Fusionen ja auch Arbeitsplätze dahin).
Kann denn das wirklich der tiefere Sinn des Wirtschaftens sein? Oder haben wir möglicherweise nur vergessen, was wirklich zählt? Vielleicht hilft uns auch ein kurzer Blick zurück: „Die meisten Menschen können sich noch an eine Zeit erinnern, wo man ein Auto zur Reparatur in die Werkstatt gebracht hat und man sich darauf verlassen konnte, dass der Mechaniker das anständig macht“, sagt der Benediktinermönch David Steindl-Rast in einem Interview mit den Salzburger Nachrichten. „Darauf hat er einen Stolz gehabt. Es wäre unter seiner Würde gewesen, wenn er das Auto nicht so gründlich hergerichtet hätte, wie er es nur konnte.“ Menschen, die ihre Arbeit in hoher Qualität machen – sie entsprachen einmal dem gesellschaftlichen Ideal, und nicht diejenigen, die, wie Steindl-Rast sagt, „sich auf Kosten anderer bereichern, die andere ausbeuten“.
Es sollte darum gehen, besseren Stahl herzustellen
Das sieht übrigens nicht nur ein 94-jähriger weiser Mönch so, sondern auch der weltweit anerkannte Sozialphilosoph Charles Handy, der ungefähr ab den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen deutlichen Wandel im wirtschaftlichen Denken verortet. Auf einmal wurde dem Stahlproduzenten der Stahl egal, wenn er sah, dass sich zum Beispiel mit Butter eine höhere Rendite verdienen ließ. Die Stahlproduktion war rasch verkauft, um mit den Erlösen dann groß ins Buttergeschäft einzusteigen. Das treibt den Aktienkurs in die Höhe – und natürlich auch die Bonuszahlungen der Manager. „Das ist nicht das, was einem Unternehmer wichtig sein sollte“, mahnt Handy ein. „Ihm sollte es darum gehen, besseren Stahl herzustellen.“
Gewinn nicht als Selbstzweck
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Selbstverständlich müssen Unternehmen profitabel arbeiten, um überleben zu können. Wenn mit einem Angebot in besserer Qualität auch die Nachfrage steigt und Kunden dann bereit sind, für die höhere Qualität auch mehr zu bezahlen, dann steigert das natürlich auch den Gewinn. Gut so – aber als Ergebnis des Wirtschaftens, nicht als Selbstzweck. Und darin liegt auch der große Unterschied zur Ideologie des „Größen-Wahns“. Es geht beim qualitativen Wachstum vor allem darum, für andere Menschen etwas im besten Sinne Wert-Volles zu schaffen und sich damit seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, anstatt nur für sich selbst Profite anzuhäufen und gleichzeitig die Lebensgrundlagen anderer Menschen zu gefährden oder zu zerstören. Wir können alle unseren Beitrag zum qualitativen Wachstum leisten. Wenn Sie in leitender Rolle in einem Unternehmen oder einer Organisation tätig sind, dann setzen Sie doch einfach die richtigen Ziele und arbeiten dann – so wie Sie das gewohnt sind – konsequent an deren Umsetzung.
Setzen Sie Ziele, wie Sie Ihr Produkt verbessern, die Dienstleistungsqualität steigern und ein besseres Kundenerlebnis schaffen können, Ziele, wie Sie Ihr Unternehmen sozial und ökologisch nachhaltiger machen können, Ziele für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Ziele für eine Vereinfachung der Abläufe, Ziele zur Steigerung der Führungsqualität. Wenn Sie auf qualitatives Wachstum setzen, dann werden Sie in guter Gesellschaft sein. Mit jenen, die mit regionalen Bioprodukten die stetig steigende Nachfrage nach hochwertigen Lebensmitteln stillen. Mit jenen, die schon lange auf sanften Qualitätstourismus setzen und damit gerade auch jetzt in Krisenzeiten gut gebucht sind, während sich in den All-inclusive-Bettenburgen gespenstische Leere breitmacht. Oder mit jenen, die mit ihrem Bekenntnis zum Qualitätsjournalismus ihre treue Leserschaft halten.
Aber auch ohne eine leitende Rolle können wir die Zukunft mitgestalten, indem wir einerseits darauf achten, dass wir unsere eigenen Aufgaben in möglichst hoher Qualität erledigen (was meist auch bedeutet, durch bewusstes Auswählen weniger zu tun), und indem wir andererseits die Qualitätsarbeit anderer dadurch wertschätzen, dass wir bereit sind, für hochwertige und nachhaltige Angebote auch mehr zu bezahlen (was meist auch bedeutet, durch bewusstes Auswählen weniger zu kaufen). Es liegt also an uns. Es sind wir – jeder von uns alleine und wir alle gemeinsam –, die es in der Hand haben, zu entscheiden, in welche Zeit wir jetzt gehen wollen – in eine Zeit der weiteren ungebremsten Expansion oder in eine Zeit der Qualität.